Der Auftaktveranstaltung unserer Transformation Talks zum Thema Megatrends sowie der Paneldiskussion über New Work haben wir uns bereits gewidmet. In diesem Beitrag geht es daher um das Expertengespräch mit unserem Beirat Dirk Brockmann, das am 29. April an unsere Auftaktveranstaltung angeknüpft hat.
Es ist der vielleicht mächtigste Megatrend unserer Zeit: die Konnektivität. Vernetzung betrifft jeden. Sie verbindet alles mit allem, macht unsere Welt immer komplexer und verändert nicht zuletzt nachhaltig die Parameter für den Unternehmenserfolg. Um dem vielschichtigen Phänomen der Konnektivität auf den Grund zu gehen, durften wir einen hochkarätigen akademischen Gast aus Berlin begrüßen: Dirk Brockmann, Professor am Institut für Biologie, Wissenschaftler am Robert-Koch-Institut und Komplexitätsforscher. Im Folgenden geben wir einen Einblick in das spannende Expertengespräch.
Vernetzung in Verbindung mit dem Transformation Engineering Framework
Gastgeber Dr. Christoph Wargitsch eröffnet die hybride Veranstaltung mit einem Impulsvortrag und stimmt das Publikum vor Ort und die Teilnehmer:innen im Live-Stream auf das Thema des Transformation Talks ein: „It’s a small world. Über die Kraft der Vernetzung.“ Der Begriff „small world“ wurde bereits 1967 geprägt, durch den Psychologen Stanley Milgram. Er stellte damals die Hypothese auf, dass jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen über durchschnittlich sechs Bekanntschafts-beziehungen verbunden ist. Milgrams Experiment und die abgeleitete Schlussfolgerung sind aufgrund der Beweisführung umstritten, doch sie veranschaulichen das komplexe System der Konnektivität. „Entscheidend ist, dass die Welt durch zunehmende Vernetzung zusammenrückt und sich Wissen, Trends und Innovationen mit hoher Geschwindigkeit verbreiten. Und genau das ist Kern der heutigen Diskussion“, betont Wargitsch.
In seinem Vortrag geht er darauf ein, dass der Mensch neben der natürlichen Vernetzung noch eine Vielzahl neuer Vernetzungsmöglichkeiten geschaffen habe: analoge, digitale, bewusst herbeigeführte, zufällig entstandene, konkurrierende, symbiotische, sichtbare und unsichtbare. „Wir wollen uns heute auf die Aspekte konzentrieren, die uns und unsere Kunden als Wirtschaftsunternehmen betreffen“, erläutert Wargitsch. „Wichtige Fragen, die uns sicher alle bewegen, lauten: Wo geht die Reise hin? Was sind die Chancen und Risiken einer stetig wachsenden Vernetzung?“ Als Beispiele führt der Physiker und promovierte Wirtschaftsinformatiker den Einsatz von künstlicher Intelligenz als Chance und den „Digital Divide“ als Risiko heran. „Kinder, denen ihre Eltern Laptops und den Umgang damit ermöglichen konnten, waren im Homeschooling besser mit dem Bildungsangebot vernetzt und somit eindeutig im Vorteil.“ Zum Abschluss seiner Impuls-Keynote, verdeutlicht der Gastgeber, dass das Transformation-Engineering-Framework durch alle Phasen hinweg vom Megatrend Konnektivität betroffen ist:
- THINK: Konnektivität bzw. deren Auswirkungen als Auslöser für Transformationen
- DESIGN: Konnektivität zur Definition von Zielbildern und Unternehmensarchitekturen
- PLAN: Konnektivität als Treiber für Dynamik und Komplexität
- DO: Konnektivität als Ermöglicher verteilter Kollaboration
Out of the Box: Neue Perspektiven und andere Sichtweisen
Wissenschaftler Dirk Brockmann stellt seinen Impulsvortrag unter das Motto „Forschen wie ein Pilz“. Die Analogie zwischen Komplexitätsforschung und Mykologie führt er dabei folgendermaßen aus: „Die Pilze, die man im Wald sieht, sind nur die Fruchtkörper. Der eigentliche Organismus, das Mycel, befindet sich unter der Erde und verbindet all diese Fruchtkörper. Auch in der Komplexitätswissenschaft sucht man verbindende Elemente zwischen einzelnen Phänomenen.“ Dabei seien diese Phänomene, wie beispielsweise die Klimakrise oder das Artensterben, bereits für sich betrachtet sehr komplex, zusätzlich hätten sie alle miteinander zu tun. Die Komplexität habe in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, berichtet Brockmann: „Wir beschäftigen uns immer mehr mit Phänomenen, die sehr vielschichtig sind.“ Eines dieser vielschichtigen Phänomene – und gleichzeitig ein Fokusthema des Wissenschaftlers – ist die Pandemie.
In seiner Keynote zeigt er ein Zeitraffer-Video zur Ausbreitung des Virus‘ über den Globus. Die Simulation stellt die Ausbreitung aus der Vogelperspektive dar, eine Technik, die in der Komplexitätsforschung oft genutzt wird, um Phänomene in ihrer Gesamtheit zu begreifen und sich nicht in Details zu verlieren. Die Ausbreitungsmuster wirken in dieser Darstellung jedoch sehr kompliziert und kaum nachvollziehbar. „In der Pandemieforschung hat es uns stark geholfen, die Sichtweise zu wechseln und die Perspektive des Virus‘ einzunehmen.“
Auch aus dieser Perspektive zeigt der Professor eine Simulation und macht klar: „Landesgrenzen spielen für die Ausbreitung der Pandemie eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger sind Mobilitätsnetzwerke. Orte mit viel Flugverkehr rücken also näher zusammen.“ Die aus der Vogelperspektive sehr kompliziert wirkenden Ausbreitungsmuster sind aus dem veränderten Blickwinkel plötzlich leicht verständlich. Es wird deutlich, dass für die Ausbreitung der Pandemie die Vernetzung ein entscheidender Faktor ist, nicht nur die mobile, sondern auch die soziale – oder wie es Brockmann ausdrückt: „Das Virus ernährt sich von unseren Kontakten.“ Die Änderung der Perspektive war in der Pandemieforschung eine entscheidende Transformation und auch andere Arten der Transformation hebt der Wissenschaftler als wichtig für seine Forschungsarbeit hervor:
1) Komplexitäts-reduktionismus:
Ein komplexes Phänomen wird auf seine Essenz reduziert, nicht auf einzelne Details. In der Physik nennt man diese Fähigkeit „die Kunst des Vernachlässigens“.
2) Karikaturen der Realität:
Experten halten die Aspekte, mit denen sie sich beschäftigen für besonders wichtig und verzerren so die Wirklichkeit. In der Komplexitäts-wissenschaften versucht man alle Disziplinen zu berücksichtigen, um dann eine Reduktion vornehmen zu können.
3) Augen-Hände-Kombination
Wenn Instrumente entwickelt werden, die neue Blickweisen ermöglichen, führt dies zu einer Wissenschaftsrevolution (z. B. Teleskop, Mikroskop).
Mit diesem dritten Punkt beendet der Professor seinen Impulsvortrag und gibt gleichzeitig einen Ausblick: „Ein weiteres Instrument, das uns neue Perspektiven ermöglicht und seit einigen Jahren zu einer Revolution in der Wissenschaft führt, sind Netzwerke.“ So hätten Mobilitätsnetzwerke wie globale Flugverbindungen beispielsweise einen entscheidenden Einfluss auf die Pandemie (vgl. oben). „Mindestens genauso einflussreich sind Kontaktnetzwerke. Smartphones werden zu einem mächtigen Sensor für deren quantitative Erfassung.“
Konnektivität: Der "wirkmächtigste Megatrend unserer Zeit"
Nach den beiden Auftaktimpulsen von Christoph Wargitsch und Dirk Brockmann geht es ins Fachgespräch der beiden Physiker. Der Gastgeber zitiert einleitend die Definition des Zukunftsinstituts für den Megatrend Konnektivität: „Das Prinzip der Vernetzung auf Basis digitaler Infrastrukturen. Vernetzte Kommunikationstechnologien verändern unser Leben, Arbeiten und Wirtschaften grundlegend.“ Das Zukunftsinstitut bezeichne Konnektivität deshalb als „wirkmächtigsten Megatrend unserer Zeit“. Brockmann erläutert, dass in allen Systemen, in denen Konnektivität einen Wandel erlebe, sich auch die Systeme selbst verändern.
Als Beispiele führt er die Ausbreitung von Krankheiten durch erhöhte Mobilität und die Informationsverbreitung durch digitale Medien an. Erhöhte Konnektivität bringt also positive wie negative Aspekte mit sich. Ein wenig bekannter Aspekt ist dabei die Umweltbelastung, wie Wargitsch hervorhebt: „2018 hat Deutschland 33 Mio. Tonnen CO2 durch den Betrieb des Internets und internetfähiger Geräte verursacht. Dies entspricht CO2-Menge des gesamten innerdeutschen Flugverkehrs.“In der Komplexitätstheorie ist oft die Rede davon, dass erhöhte Vernetzung für erhöhte Dynamik, schnellere und stärkere Erregungsamplituden und erhöhte Komplexität sorgt. Brockmann kann dieser Kausalkette nicht pauschal zustimmen: „Das hängt vom betreffenden System ab. Hier können wir beispielsweise von der Biologie lernen, Netzwerke wie die zwischen Bestäuberinsekten und Blütenpflanzen werden durch eine zu starke Vernetzung instabil und kollabieren.“ Brockmann weist darauf hin, dass ökologische Netzwerke, die mittlerweile sehr gut quantitativ analysiert sind, häufig wichtige Erkenntnisquellen für die Komplexitätsforschung darstellen. Es handle sich hier um sehr strukturreiche und robuste Systeme.
Schnelle und effektive Problemlösung: Theorie vs. Praxis
Brockmann erzählt im Rahmen des Expertengesprächs viel von seiner Arbeit als Wissenschaftler an Instituten und Behörden und stellt fest: „Hierarchische Systeme funktionieren in der Routine gut, aber sind sehr schwach adaptiv. Es braucht laterale Verbindungen, um schlagkräftige Arbeitsgruppen zu bilden und Probleme schnell und effektiv zu lösen.“ Er fragt beim Unternehmer Wargitsch nach, ob sich diese Erkenntnis auf große Wirtschaftsunternehmen übertragen lasse. Der CEO stimmt ihm zu, berichtet aber auch von Schwierigkeiten in der Praxis: „Wir versuchen bei Transformationen neben dem klassischen, hierarchischen System und der Projektorganisation oft ein drittes Betriebssystem einzuführen: spontane Arbeitsgruppen, die sich interdisziplinär zusammenfinden und dann auch wieder auflösen. Dies kommt jedoch manchmal nicht gut an, wird nicht verstanden und ist schwer zu erklären.“ Der Universitätsprofessor erzählt, dass er im deutschen akademischen Bereich oft auf die gleichen Probleme stoße. In den USA sei diese Arbeitsweise dagegen längst Standard und die Innovationsdichte daher deutlich ausgeprägter. Noch ein anderer Aspekt komme der Wissenschaft im anglo-amerikanischen Bereich zugute: die starke Fehlerkultur. „Dort ist es okay, wenn ein Experiment nicht funktioniert und genau von diesem Spirit sollten wir uns etwas abgucken.“ Denn durch die Angst vor Fehlern sei die explorative Komponente der Wissenschaft in Deutschland oft eingeschränkt.
WARGITSCH-Beiratsmitglied und ehemaliger CIO im Bundesministerium für Verteidigung Klaus-Hardy Mühleck fragt aus dem Publikum nach, wie es uns denn gelingen könne, eine solche Kultur in Deutschland einzuführen. Die Antwort ist für Brockmann klar: „Durch junge Leute. Einstein war 25 als er die Relativitätstheorie entwickelt hat, Bob Dylan hat mit 21 ‚Blowing in the wind‘ geschrieben. Die richtigen Superbrains, das sind die Jungen.“ Die Entwicklung junger Menschen liegt dem Professor am Herzen, er träumt von einem Santa Fe Institute in Brandenburg, einem Ort der Begegnung für interdisziplinäres Lernen. Orte der Begegnung sollten aus Sicht von Wargitsch und Brockmann übrigens auch Büroräume sein – sowohl in Unternehmen als auch in Instituten. Kreative Kollaboration zwischen interdisziplinären Teams sei von unschätzbarem Wert.
Autorin
Nora Kammerl
Marketing & Brand Specialist