Warum sind wir risikoinkompetent?

Im vergangenen Jahr haben wir uns im Rahmen unserer Transformation Talks unter anderem mit dem Megatrend Sicherheit beschäftigt. Während unseres Events haben wir den Megatrend mit all seinen Facetten beleuchtet – unter anderem die Risikowahrnehmung.

In diesem Beitrag werden wir uns mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Wie wird in unserer Gesellschaft mit Risiken umgegangen? Worin liegt der Unterschied zwischen Risiko und Ungewissheit? Und was haben zwei antike Göttinnen mit diesem Thema zu tun?

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. […] Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Dieses Zitat stammt von Immanuel Kant, einem der bekanntesten deutschen Philosophen der Aufklärung. Was hat Risiko – das Thema dieses Artikels – nun aber mit Kant und der Aufklärung zu tun? Einfach gesagt, lässt sich deren Verbindung mit dem Wort Informationsbeschaffung beschreiben. Heutzutage hat jede:r Zugang zu Informationen und kann sich derer in der Theorie immer und überall bedienen. Diese Möglichkeit wird auch als passiver Freiheitsbegriff beschrieben. Wesentlich interessanter ist aber der positive Freiheitsbegriff. Dieser bezieht sich auf weit mehr als nur die ­– von außen gegebene – Möglichkeit eines freien Informationszugangs. Er bedeutet den aktiven Einsatz eines Menschen, sich der vorhandenen Informationen auch zu bedienen. Bildlich gesprochen ist die passive Freiheit eine Tür, die theoretisch geöffnet werden kann, weil sie einen Türgriff besitzt. Die positive Freiheit hingegen beschreibt den Prozess, die Klinke herunterzudrücken und die Tür tatsächlich zu öffnen. Die positive Freiheit ist bis heute mit Herausforderungen verbunden, die sich unter anderem in Verbindung mit dem Thema Risiko offenbaren. Oft schaffen es weder Expert:innen noch Laien sich der positiven Freiheit zu bedienen und aktiv mithilfe von Risikokommunikation sowie -verständnis die nötige Kompetenz aufzubauen, um Risiken so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich sind.

Der deutsche Psychologe Gerd Gigerenzer beschreibt unsere Gesellschaft als „risikoinkompetent“. Er ist der Meinung, dass sich Risikokompetenz sozusagen eine Stufe höher als die ihr zugrunde liegende Risikointelligenz befindet. Risikokompetenz ist „die Fähigkeit auch mit Situationen umzugehen, in denen nicht alle Risiken bekannt sind und berechnet werden können.“ Risiken einzuschätzen und sie anderen verständlich zu machen ist also ein Problem in unserer Gesellschaft. Erschwerend hinzu kommen falsche Expert:innen-Aussagen, verfälschte Abbildungen von Themen aufgrund diverser Interessenkonflikte und verzerrende Medienberichte.

Da wir die Welt heutzutage weitgehend nicht mehr real erleben, sondern medial wahrnehmen, haben die Medien einen erheblichen Einfluss auf unsere Informationsbeschaffung und deswegen einen ebenso großen Einfluss auf unsere Risikowahrnehmung. Klaus Heilmann, ausgewiesener Experte für Risikoforschung und Kommunikationsfragen, beschreibt diesen Einfluss in seinem Buch „Das Risikobarometer: Wie gefährlich ist unser Leben wirklich?“ wie folgt:

„Überhaupt tun wir alle gut daran, uns klarzumachen, dass die uns erreichenden Informationen – vor allem im Bereich von Wissenschaft und Technik – immer ungenau, niemals vollständig, meist gefärbt und auch oft falsch sind. Das Komplexe verwandelt sich ins Simple, das Relative ins Absolute, das Mögliche ins Wahrscheinliche – und die Wirklichkeit bleibt meist auf der Strecke. Insgesamt betrachtet hat die Informationsfülle bisher weniger zu Klarheit als zu Desorientierung beigetragen.“

Als einfaches, aber verständliches Beispiel dient der Wetterbericht im Fernsehen: „Morgen wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnen.“ Das Einsetzen des Regens ist in diesem Fall das Risiko. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 30 Prozent. Klingt logisch und absolut banal, oder? Aber worauf beziehen sich die 30 Prozent? Wird es während 30 Prozent der Zeit regnen? Oder wird es flächenmäßig in 30 Prozent der betroffenen Region regnen? Bezieht sich die Prozentangabe auf die Tage, für die die Vorhersage gemacht wurde? Was genau ist denn nun die Referenz bzw. der Bezug für die Wahrscheinlichkeit – Zeit, Region, Tage? Gerd Gigerenzer führt dieses Beispiel in seinem Buch „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ stellvertretend für die mangelnde Risikokompetenz durch unzulängliche Risikokommunikation und daraus resultierend fehlerhaftes Risikoverständnis auf und erklärt: „Neue Vorhersagetechniken haben den Meteorologen die Möglichkeit gegeben, rein verbale Äußerungen der Gewissheit (‚Morgen wird es regnen‘) oder der Wahrscheinlichkeit (‚Es ist möglich, dass ….‘) durch numerische Exaktheit zu ersetzen. Aber größere Exaktheit hat nicht zu größerer Klarheit über die Bedeutung der Nachricht geführt.“ Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Risikokommunikation durch Expert:innen und Risikoverständnis durch Laien schon auf der niedrigen, banalen Ebene Lücken und aufweist. Dieses Phänomen besteht aber auch bei komplexen Themen und führt zu der bereits erwähnten Risikoinkompetenz.

Risiken so wahrnehmen, wie sie tatsächlich sind. Eine Zielvorstellung die wohl nur sehr schwer zu erreichen ist. Neben den Hürden in Hinblick auf Kommunikation und Verständnis liegt das Kernproblem schon in der Begriffsdefinition des Wortes Risiko. Was ist ein Risiko? Und wie unterscheidet sich jenes von Ungewissheit?

Gigerenzer schreibt dazu: „Gewissheit, Risiko und Ungewissheit. In unserer Alltagssprache unterscheiden wir zwischen ‚Gewissheit‘ und ‚Risiko‘, trotzdem werden die Begriffe ‚Risiko‘ und ‚Ungewissheit‘ meistens synonym verwendet. Das sind sie aber nicht. In einer Welt bekannter Risiken weiß man alles, einschließlich der Wahrscheinlichkeiten, mit Gewissheit. Hier reichen statistisches Denken und Logik aus, um gute Entscheidungen zu treffen. In einer ungewissen Welt ist nicht alles bekannt und lässt sich die beste Option nicht berechnen.“ Laut Gigerenzer bedarf es der Logik sowie Statistik für bekannte Risiken aber auch ein gewisses Maß an Intuition ist nötig, um mit der Ungewissheit in der Welt zurecht zu kommen. Außerdem sei es wichtig, beide Begriffe – Risiko und Ungewissheit – in ihrer Bedeutung und Tragweite differenziert zu betrachten und nicht fälschlicherweise zusammenzufassen und als Einheit zu begreifen.

Fortuna und Sapientia: Zwei Göttinnen, an die die Menschen bereits in der Antike glaubten. Sie verschaffen auf symbolischer Ebene einen Überblick über den Unterschied aber auch die Verbindung zwischen bekanntem Risiko sowie Ungewissheit. Fortuna ist die mit dem Lebensrad spielende Göttin des Glücks und Zufalls. Sapientia ist die Göttin des Wissens und der Wissenschaft. Beide Frauen sind sich traditionell gegenübergestellt. In unserer heutigen Gesellschaft koexistieren die Werte, die die Göttinnen verkörpern ebenfalls: Zahlen, Wahrscheinlichkeiten, Statistiken und Wissenschaft auf der einen Seite; Glück, Schicksal, Intuition und Zufall auf der anderen Seite. Das Bild der beiden Göttinnen trägt zum Verständnis von Risiko und Ungewissheit bei. Beide Begriffe existieren parallel und haben unterschiedliche Bedeutungen, aber es gibt dennoch eine Verbindung: Um Risiko zu verstehen, muss Ungewissheit in Abgrenzung ebenfalls begriffen werden.

Unser Umgang mit und Verständnis von Risiko ...

... Themen, denen in unserer Gesellschaft wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Die Aspekte dieses Beitrags basieren hauptsächlich auf dem Werk „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ von Gerd Gigerenzer und „Das Risikobarometer: Wie gefährlich ist unser Leben wirklich?“ von Klaus Heilmann.