Die Digitale Ethik untersucht verschiedene Handlungsoptionen, die sich aus der Entwicklung, dem Einsatz und der Anwendung digitaler Technologien ergeben. Das bedeutet, dass sie aus verschiedenen Perspektiven auf die Digitalität blickt.
Um diese Perspektiven zu veranschaulichen, möchte ich mit einem konkreten Beispiel aus der Praxis beginnen. In den vergangenen Jahren hat sich die Robotik enorm weiterentwickelt und viele neue Bereiche erobert. Vom Roboter, der in der Fertigung und Logistik hilft, über Haushaltsroboter und Roboter für den Militäreinsatz, bis hin zu Pflegerobotern. Der Robotik-Einsatz hat vielfältige Auswirkungen auf unser Leben und wird vor allem auch im kulturellen Kontext ganz unterschiedlich betrachtet. So haben im asiatischen Raum – insbesondere in Japan – Pflegeroboter schon Einzug in den Alltag gefunden, aber auch in Europa gibt es bereits Anwendungsbereiche für sie. Wenden wir uns nun also den Perspektiven zu, die die Ethik uns auf das Feld der Robotik eröffnet.
Die teleologische Perspektive
gr. telos: Ziel, Zweck
auch: Folgenethik (utilitaristisch)
Aus der teleologischen Perspektive analysiert die Digitale Ethik die Kosten-Nutzen-Relation digitaler Technologien – und zwar stets in Bezug auf das Individuum sowie auf die Gesellschaft. Die Folgenethik ist – wie der Name bereits vermuten lässt – von Bedeutung für Folgenabschätzungen digitaler Innovationen, z. B. beim Einsatz von Pflegerobotern. Die Fragen, die sich aus dieser Perspektive ergeben, sind unter anderem:
- Was gewinnen und verlieren wir, wenn wir Patienten von digital gesteuerten Maschinen pflegen lassen?
- Wer hat den Nutzen? Und wer muss die Nachteile des Nutzens beim Einsatz von Pflegerobotern in Kauf nehmen?
- Lässt sich dies “nur” als ein rationales Geschäftsmodell sehen?
Die deontologische Perspektive
gr. deon: Pflicht
auch: Pflichtenethik
Die Pflichtenethik ist eine Sichtweise, die Aussagen aus Pflichten und Gesetzen ableitet. Sie versteht den moralischen Wert einer Handlung unabhängig von den Konsequenzen und betrachtet somit den intrinsischen – also verinnerlichten – moralischen Status einer Handlung oder einer Anwendung. Entscheidend ist, ob eine Handlung einer moralischen Norm oder Pflicht entspricht und aufgrund dieser ausgeführt wurde. Beispielsweise lehnte der deutsche Philosoph Immanuel Kant jede Form von Notlüge ab, auch wenn durch sie Unheil hätte abgewendet werden können. Die Deontologie zwingt uns somit auch zum Nuancieren und oft zum Aushalten von Dilemmata. Für das Beispiel Pflegeroboter würde dies bedeuten, dass die Pflege durch einen Roboter in bestimmten Fällen besser sein mag als gar keine Pflege. Aber:
- Haben wir nicht die Pflicht zur Humanität, zur Menschlichkeit und sollten daher der Versuchung widerstehen, aus Kosten- oder/und Zeitgründen pflegebedürftige Menschen (komplett) von Robotern versorgen zu lassen?
- Ist es richtig, einen pflegebedürftigen, älteren oder kranken Menschen ganz oder teilweise von einem Roboter behandeln zu lassen?
- Sollten wir bei der Qualität der Pflege von Alten und Kranken nicht die gleiche Wertschätzung aufbringen wie bei gesunden und jungen Menschen?
Die tugendethische Perspektive
auch: Tugendethik
Aus einer tugendethischen Warte heraus lädt uns die Digitale Ethik ein, nachzudenken und auszuprobieren, wie wir zusammenleben möchten. Bei der Tugend geht es nicht um ein einmaliges Handeln, sondern um bleibende Einstellungen und Grundhaltungen, die sich in einem guten Lebensstil niederschlagen. Das Ziel ist ein „gutes“ „gelingendes” und somit auch “glückliches” Leben. Dahinter steckt die Frage, wie wir als Menschen so handeln können, dass wir zum individuellen, aber eben auch zum kollektiven, gesellschaftlichen Glück beitragen. Ein solches Streben nach der Vortrefflichkeit der Lebensweise ist aus dieser Sicht die höchste Tugend: Was für ein Mensch will ich sein?
Die Digitale Ethik würde in Bezug auf die Pflegeroboter etwa reflektieren, ob
- die Übernahme von Pflege durch Roboter und somit die Auslagerung von menschlicher Zuwendung an Maschinen überhaupt noch geeignet erscheint, um menschlich zusammenzuleben.
- wir uns trotz aller Widrigkeiten und – vielleicht trotz guter – Gegenargumente nicht mehr anstrengen können, um die Würde eines pflegebedürftigen Menschen zu wahren. Denn dessen “gutes Leben” und individuelles Glück könnte Teil und Ausdruck eines größeren, gesellschaftlichen Glücks sein.
Indem wir aus unterschiedlichen Perspektiven auf Handlungen und Auswirkungen der Digitalisierung blicken, kann die Digitale Ethik eine differenzierte und ganzheitliche Analyse des digitalen Lebens ermöglichen. Ein aktuelles Anwendungsbeispiel der Digitalen Ethik kommt aus der Schweiz. Hier gingen die Fachhochschule Nordwestschweiz zusammen mit der Firma F&P Robotics AG (Hersteller von Pflegerobotern) der Frage nach: Welche moralischen Probleme treten beim Einsatz eines Pflegeroboters auf und wie kann eines von ihnen mithilfe von Ansätzen der Maschinenethik gelöst werden?
Das Ergebnis ist ein sogenanntes Moralmodul, dass den Benutzer das Verhalten des Pflegeroboters individuell anhand der moralischen Probleme anpassen lässt. Dies ist im Anbetracht der zunehmenden Komplexität digitaler Technologien auch dringend erforderlich. Es gibt somit nicht die eine Perspektive und Lösung, sondern vielmehr verschiedene Perspektiven, Möglichkeiten und Handlungsoptionen, die in ihrer Gesamtheit der beschriebenen Komplexität gerecht werden können.
Wie im Falle der Perspektiven der Digitalen Ethik wird es auch in unserem nächsten Beitrag darum gehen, ein Themenfeld in seiner Komplexität begreifbar zu machen: dann widmen wir uns den „Chancen und Risiken der Digitalisierung“.
Autor
Carsten Gundlach
Senior Transformation Consultant & Absolvent des “Digital Leadership & Ethics Program”
- Grimm Petra, Keber Tobias O., Zöllner Oliver: Digitale Ethik – Leben in vernetzten Welten.
- Institut für Digitale Ethik (IDE): https://www.hdm-stuttgart.de/digitale-ethik (abgerufen am 09.09.2022)
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